16 | 05 | 2022 | Reisen | 2 | 6551 |
16 | 05 | 2022 | Reisen |
2 6551 |
«Meersaiblinge» an der Küste Nordnorwegens
Rasmus Ovesen entdeckt eine unerwartete und kaum bekannte Fischerei in Nordnorwegen. In der Nähe von Tromsø und anderen Orten ziehen ins Meer wandernde Seesaiblinge an der Küste umher.
Der dänische Name für den Seesaibling ist «fjeldørred», was so viel bedeutet wie «Hochlandforelle». Der geläufige lateinische Name Salvelinus alpinus unterstreicht diese geografische Zugehörigkeit. Die Gattung Salvelinus gehört zur Familie der Salmoniden und umfasst eine grosse Anzahl von Arten, die kaltes, sauberes und sauerstoffreiches Wasser benötigen, um zu gedeihen und sich fortzupflanzen. Zu dieser Familie gehören unter anderem etliche weitere Saiblinge in Übersee: Dolly Varden, Kanadischer Seesaibling, Bachsaibling und die Stierforelle. Diese Salmoniden unterscheiden sich von den Forellen dadurch, dass sie deutlich weiter nördlich (eher sogar arktisch) verbreitet sind und dass sie helle Flecken auf dunklen Flanken, kleine Schuppen und weisse Flossensäume haben. Der kanadische Seesaibling und der Bachsaibling aus Nordamerika wurden mit unterschiedlichem Erfolg in Skandinavien eingesetzt, aber die Seesaiblinge sind es, welche in Norwegen (und weiteren Teilen Europas) natürlicherweise vorkommen. Es handelt sich um eine anpassungsfähige und variantenreiche Fischart, die je nach Gewässer, Fressgewohnheiten und Höhenlagen in Bezug auf Färbung, Körperform und Grösse enorm variiert. Auch innerhalb etlicher Seen gibt es phänotypisch deutlich unterschiedliche Formen des Seesaiblings und aktuelle Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es sich dabei um unterschiedliche Arten handelt. Das lateinische «alpinus» im verbreiteten Familiennamen deutet auf alpine Regionen oberhalb der Baumgrenze hin. Doch das trifft eigentlich nicht ganz zu, denn Seesaiblinge sind auch im Flachland und sogar unterhalb der Meeresoberfläche zu finden.
Entdeckung beim Meerforellenfischen
Es ist Anfang Juni, eine Zeit, die man in Nordnorwegen als Frühling bezeichnen kann, als ich die Gegend um Tromsø besuche. Der Hauptzweck meines Besuchs ist das Fliegenfischen auf Meerforellen an den offenen Küsten und in den wettergeschützten Fjorden. Die Wasseroberfläche ist totenstill und spiegelt die dunklen und majestätischen Gebirgszüge der Umgebung mit grösster Präzision wider. Es ist unschwer zu erkennen, wenn ein Fisch die ruhende Oberfläche in Bewegung versetzt. Immer wieder unterbreche ich die Fahrt zu einem neuen Ziel, fahre von der Strasse ab und eile zum Ufer, weil ich aus dem Auto einen Fisch entdecke. Ich finde heraus, dass viele dieser Ringe an der Oberfläche keine Meerforellen, sondern Seesaiblinge sind, die Mücken einschlürfen. Zunächst nerve ich mich darüber, keine einzige Trockenfliege dabeizuhaben. Zum Glück stellt sich heraus, dass diese Fische nicht allzu wählerisch sind und sich auch von vielen kleinen Krustentieren unter der sonnenbeschienenen Wasseroberfläche ernähren. Solche Imitationen habe ich jede Menge in meiner Küstenfliegenbox.
Wandernde Saiblinge
In den nördlichen Flussmündungen und in Fjorden, die von Gletscher- und Hochlandflüssen gespeist werden, neigen die Seesaiblingspopulationen dazu, zwischen Süss- und Salzwasser zu wandern, gleich wie die Meerforellen. Sie laichen und überwintern in den Flüssen und wandern dann flussabwärts zu den riesigen und vielfältigen Jagdgründen des Ozeans – und hier werden sie immer blanker. Wie die Meerforellen, aber vielleicht noch ausgeprägter, bilden die Seesaiblinge Schwärme und jagen gemeinsam. Doch während die Meerforelle oft in tiefere Gewässer vordringt, um grössere Beutetiere wie Sprotte, Sandaal und Hering zu jagen, ist der Seesaibling hier direkt an der Küste anzutreffen, wo er eine ausgeprägte Vorliebe für kleine Beutetiere wie Flohkrebse, Krill und Garnelen zeigt.
Verhaltensmuster nutzen
Während der vier Angeltage, die mir hier zur Verfügung stehen, konzentriere ich mich zunehmend auf die Saiblinge und die aufregenden Möglichkeiten des Fischens auf Sicht, die sich hier bietet. Nach und nach knacke ich ein paar Codes: Ich finde heraus, dass diese Fische vor allem bei Ebbe entlang der Küste aktiv sind und dass sie sich vorzugsweise in Buchten und Meerengen in der Nähe von Fjorden- oder Flussmündungen aufhalten, wo Gezeitenströmungen auf ruhiges Wasser treffen. Möglichst ruhig und gelassen muss ich die entdeckten Fische anwerfen. Sie bewegen sich zügig entlang der Küstenlinien und ich erkenne bald, dass es sinnlos ist, ihnen überstürzt folgen zu wollen. Vielmehr ist es entscheidend, die Bewegungen der Fische zu erkennen und sich möglichst diskret an die besten Stellen heranzupirschen. Die Würfe platziere ich möglichst weit vor ihnen, um die scheuen Fische nicht aufzuschrecken.
Überraschendes Kraftpaket
Den ersten «Meersaibling», den ich landen kann, ist ein robust gebauter Fisch um die 55 Zentimeter, der meine Fliege inhaliert, als sie am Ende eines langen Vorfachs knapp unter der Oberfläche treibt. Ich bin einem Schwarm eine Weile an der Küste entlang gefolgt, bis ich endlich eine gute Position finde, um einen Wurf zu machen. Das Muster, eine kleine Gammarus-Imitation, verschwindet in einem kleinen Wirbel. Als ich den Haken setze, zieht der Fisch mit einer solchen Wucht ab, dass ich perplex bin. Damit habe ich nicht gerechnet! Dieser Saibling kämpft heftiger und mit einer grösseren Ausdauer als jede Meerforelle, die ich in ähnlicher Grösse an der Leine hatte. Ich muss maximalen Druck auf das Gerät ausüben, um ihn zu ermüden und zum Feumer führen zu können.
Ein besonderer Fisch
Als der Fisch im Netz liegt, bestaune ich ein stattliches Tier, welches ganz anders ist als alle Seesaiblinge, denen ich bisher in Flüssen und Bergseen begegnet bin. Dieser Salvelinus ist so chromblitzend wie eine makellose April-Meerforelle, aber völlig fleckenlos. Die Flanken sind wie glänzende Spiegel, und es ist, als ob die silbrige Substanz, die den Fisch bedeckt, flüssig wäre. Wie durch Zentrifugalkräfte befördert, scheint dieses Silber aus den Flanken in die Schwanzwurzel zu sickern und entlang der Flossenstrahlen feine glänzende Linien zu ziehen. Ein verblüffendes Leuchten zwischen Olivgrün und Meeresblau strahlt auf dem Rücken, und entlang der Kiemen und des Mauls ist ein subtiler Goldschimmer zu erkennen, wie ein Überbleibsel der Laichfarben, mit denen der Fisch im Winter geschmückt war. Die Augen schimmern irisierend, als ob sie mit Goldstaub gefüllt wären.
Neue Vorliebe im Norden
Der prächtige männliche Meer-Seesaibling ist der erste von schliesslich zwölf Exemplaren dieser Art, die ich während dieses Trips überlisten und wieder freilassen kann. Dieser unerwartete Verlauf eines Meerforellen-Abenteuers hat in mir eine Begeisterung für einen Fisch entfacht, den ich zuvor nicht auf dem Radar hatte. Als ich am vorletzten Tag ein gewaltiges Exemplar verliere, das zweifellos mehr als zwei Kilo wiegt, dämpft das meinen Meersaiblings-Rausch nicht – ganz im Gegenteil! Wenn ich das nächste Mal an die Küsten des hohen Nordens fahre, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass meine Meerforellenausrüstung nicht mehr so oft zum Einsatz kommt.
Fischer-Info
Im Meer lebende Saiblinge Norwegens
Seesaiblinge sind in mehr als 100 küstennahen Flusseinzugsgebieten von Bindalen im Süden bis nach Troms, Finnmark und Spitzbergen im Norden nachgewiesen. Das Bindalen-Gebiet gilt als die südliche Verbreitungsgrenze der ins Meer wandernden Seesaiblinge. Sie gedeihen in kaltem Wasser (zwischen 2 und 8 Grad Celsius) und vertragen das Meerwasser. Ins Meer wandernde Seesaiblinge wachsen langsam und migrieren in der Regel drei Jahre lang zwischen Süss- und Salzwasser hin und her, bevor sie geschlechtsreif werden. Zu diesem Zeitpunkt sind die Männchen etwa 25 und die Weibchen etwa 35 Zentimeter lang. Das Ablaichen findet im Herbst in und um Seen statt, die über Flüsse mit dem Meer verbunden sind. Sie überwintern anschliessend im Süsswasser. Ihre Aufenthaltszeiten im Meer sind relativ kurz und erstrecken sich von Ende Mai bis Ende August. Viele dieser Saiblinge halten sich nur 30 bis 50 Tage im Meer auf, und zwar oft in einem Umkreis von rund 20 Kilometern um den Fluss, aus dem sie ins Meer gezogen sind. An bestimmten Orten in Nordnorwegen, vor allem auf Spitzbergen, können die «Meersaiblinge» bis zu 5 Kilo schwer werden. Exemplare von mehr als 2 Kilo gelten jedoch bereits als kapital.
Catch & Release
In bis zu 25 Prozent aller norwegischen Wassereinzugsgebiete, in denen wandernde Seesaiblinge vorkommen, sind deren Bestände bereits dezimiert oder gefährdet. Der Seesaibling ist als äusserst schmackhafter und begehrter kulinarischer Leckerbissen bekannt, aber wir haben eine gemeinsame Verantwortung, diese einzigartigen Wanderformen zu schützen. Zurückhaltung bei der Entnahme ist daher angebracht. Vor allem in Gebieten, in denen der Seesaibling unter Druck steht oder zurückgeht, sollte man gefangene Individuen vorsichtig wieder zurücksetzen.
Mögliche Ziele
Es gibt Flüge über Oslo nach Bodø, Tromsø, Kirkenes und Longyearbyen (Spitzbergen). In den Fjorden rund um diese Städte gibt es viele gute Stellen, um Seesaiblinge zu fangen. Da die meisten Strassen entlang der Küsten verlaufen, kann man ein Auto mieten und die Fjorde erkunden, bis man Saiblinge findet.
2 Kommentare
Peter | 30 | 10 | 2023 |
Hallo, ich finde den Artikel sehr interessant, weil ich auch in der zweiten Mal Hälfte nach Tromsö möchte. Leider sind die Aussagen was die Saiblinge betrifft völlig unterschiedlich, manche haben mir Herbst gesagt und manche sagen im Mai. Geht denn um die Zeit schon was vom Ufer? Also auch Richtung Meerforelle? Schon mal danke.
Rolf Frischknecht
Toll- auch für mich eine echte neue Information. Durchaus prufenswert,
mal im Meer Saiblinge zu fangen statt im Fluss (k)einen Lachs