14 | 12 | 2020 | Schweiz | 0 | 6904 |
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Unwetter
Chancen und Risiken für Gewässer und Fische
Hochwasser sind Urgewalten. Sie reissen alles mit und gestalten ganze Flussbetten neu. Trotzdem sind sie für die Bewohner der Bäche und Flüsse nicht nur eine grosse Gefahr, sondern auch eine Chance.
Immer wenn es im Herbst einige Tage kräftig regnet, befällt mich ein seltsames Gefühl. Besorgt schaue ich dann abends von meiner Wohnung in Naters hinauf zum Simplonpass. Blitze erhellen die Nacht und zeigen für kurze Momente die dicken Wolken, die von Italien wie weiche Gelati-Masse über die Alpen ins Rhonetal fliessen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, alles sei ruhiger, stiller und die Zeit gehe viel langsamer. Dann erinnere ich mich zurück an das Unwetter vor 27 Jahren, als der Saltina-Bach Brig-Glis mit meterhohen Schlammmassen eindeckte. Mein Bruder und ich wurden damals von der Einsatzleitung aufgeboten, um im Stockalperhof in Brig Lebensmittel und Taschenlampen zu verteilen. Eine dankbare Aufgabe, an die ich mich, trotz widrigster Umstände, gerne zurückerinnere. Viel beklemmender ist das Gefühl, wenn ich an das Unwetter von Gondo vor 20 Jahren zurückdenke. Dort verloren 13 Menschen in den Geröllmassen ihr Leben.
Grosse Umgestalter
Auch dieses Jahr schwellten die Bäche und die Rhone am ersten Oktoberwochenende nach intensivem Regen wieder einmal bedrohlich an. In Reckingen führte der Rotten (Walliserdeutsch für Rhone) 170 m3 Wasser pro Sekunde, rund 20-mal mehr als sonst zu dieser Jahreszeit üblich. So kam es im Goms zu mehreren Überschwemmungen. Zum Glück ohne grössere Schäden. In der Talebene bei Brig und Visp hatten sich die grossen Aufweitungen der 3. Rhonekorrektion bewährt. Nicht auszudenken, was ohne sie im Chemiewerk der Lonza hätte passieren können.
Wie immer bei grösseren Unwettern stelle ich mir als Fischer die Frage, welche Wirkung sie auf die Gewässer und deren Bewohner haben. Nach Hochwassern gehe ich oft ans Wasser, um Eindrücke zu gewinnen und Erfahrungen zu sammeln. Wo die Bäche nicht eingedämmt sind, tragen sie die Ufer ab und reissen Sand, Kies, Steine, Vegetation und Fallholz mit sich. Mit diesem wertvollen Baumaterial schaffen sich die Bäche neue Strukturen. Schwemmholz klemmt ein und Kies, Sand und Steine lagern sich daran ab. Und so entsteht eine ganz neue Gewässerdynamik mit schnellen, langsamen, tiefen und flachen Gewässerabschnitten. Für Forellen jeden Alters entstehen geeignete Habitate und schützende Unterstände. Der Bach renaturiert sich mit der Kraft der Wassermassen ganz von allein. Und, man möge es mir verzeihen, bestimmt viel besser, billiger und natürlicher als mit einer Heerschar von Experten und Baggerschaufeln. Selbst wenn der Bach manchmal Dämme und Mauern einreisst, kann ich ihm nicht böse sein. Damit will er uns schliesslich nur mahnend zeigen, wie viel Raum wir ihm eigentlich geben müssten.
Schlechte Chancen für Massfische
So heilend wie für die Strukturen der Gewässer sind die Unwetter für die Bachforellen leider nicht. Zumindest nicht direkt und nicht immer. Meine Erfahrungen sind da sehr unterschiedlich und hängen von der Art der Fische ab. So werden vor der Rhoneeröffnung im März traditionell viele grössere Besatzfische, sogenannte Massfische, eingesetzt. Oft werden diese Bachforellen an der Eröffnung nicht gefangen. Irgendwie scheinen sie verschwunden zu sein. Ich behaupte, dass es ihnen sicher so ergangen ist, wie wenn man mich, mit meinen fast 100 Kilogramm Körpergewicht, untrainiert auf einen Marathon mit sehr viel Gegenwind schicken würde. Ob ich jemals heil am Ziel ankommen würde, bleibt natürlich, wie bei den Besatzforellen, sehr fraglich. Man kann sich leicht ausdenken, dass diese Fische bei reissendem Hochwasser kaum eine Überlebenschance haben.
Unterschätzte Überlebenskünstler
Ganz anders verhält es sich bei wilden Bachforellen oder solchen, die sehr jung eingesetzt wurden. Sie sind kräftig, scheu und aufmerksam. Und sie kennen jeden Unterstand. Bei steigenden Wasserständen suchen sie instinktiv die für sie geeigneten Stellen auf. Sei es am Gewässerboden oder an den Gewässerrändern, wo die Strömungsgeschwindigkeit kleiner ist, im Schutz von grossen Steinen, in tiefen ruhigeren Gumpen oder durch Abwanderung in weit entfernte, sicherere Gewässerabschnitte. Sogar künstliche Hochwasser überstehen «wilde» Forellen unter gewissen Voraussetzungen ohne grössere Schäden. Vor zwei Jahren konnte ich dies an einem Gebirgsbach im Goms beobachten. Wenige Tage zuvor wurde der darüber liegende Staudamm geleert. Die Gumpen waren zwar mit Sedimenten gefüllt, aber die Fische waren in gleicher Anzahl da wie vorher. Trotz anfänglicher Bedenken hatte ich eine herrliche Fliegenfischerei. Die Betreiber des Stausees hatten das Wasser, wie vorgeschrieben, wie bei einem natürlichen Hochwasser langsam ansteigen und absinken lassen. In einer flachen, sanften Sinuskurve und nicht in einer ruppigen «Rechteckkurve», mit steil steigenden und fallenden Flanken. So schnelle Wechsel vertragen die Bachforellen und andere Fische nämlich gar nicht.
Ich bin überzeugt, dass Unwetter und Hochwasser bei natürlichen Gewässern mit genügend Raum und wilden oder jung besetzten Forellen vor allem auch langfristig eher Chancen als Risiken bedeuten. Ich glaube auch, dass wir das Wasser oft trüber einschätzen, als es wirklich ist. Zudem unterschätzen wir die Überlebenskunst von Bachforellen, die optimal an ihre Umgebung angepasst sind. Und noch ein kleiner Tipp. Schon im 16. Jahrhundert hiess es: «Im Trüben ist gut fischen!»
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