


27 | 06 | 2016 | Praxis | ![]() | ![]() |
27 | 06 | 2016 | Praxis |
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Karpfen auf Sicht im Flachwasser zu befischen, ist bezüglich Spannung mit dem Trockenfliegenfischen zu vergleichen und vermag daher selbst Gelegenheits-Karpfenfischer zu begeistern. Hierbei kann man das Fressverhalten der Fische hautnah beobachten und seine Fangtechnik optimal ihren Vorlieben anpassen.
Vorsichtig bewege ich mich am mit Moos bewachsenen Ufer entlang. Direkt neben meinen Füssen ist das Wasser nur 30 Zentimeter tief und glasklar. Ich erkenne jedes Blatt und jeden Stein deutlich. Einige Krautbänke und Seerosenfelder reichen bis 30 Meter hinaus, wo eine dunklere Farbe tiefes Wasser erkennen lässt. Ich halte nach Fischen Ausschau. Und dann entdecke ich eine Bugwelle ganz im Flachen. Wenig später hebt sich auch schon ein breiter Rücken aus dem Wasser und lässt sich wie ein U-Boot wieder absinken.
Ganz vorsichtig pirsche ich mich an den Fisch heran – einen langen, kompakten Schuppenkarpfen. Meine zitternden Hände greifen zum Dosenmais. Mit einem vorsichtigen Wurf verteile ich eine Handvoll der gelben Körner im Wasser und versuche, absolut stillzustehen. Ganz langsam schiebt sich der Fisch näher. Als er über dem Mais ist, hoffe ich, dass er die Körner entdeckt und sie sogleich frisst. Aber er schwimmt unbeeindruckt vorbei. Nun kann ich ganz schnell meine Rute einholen und darauf warten, dass der Karpfen zurückkehren wird. Sobald der Zapfen im Wasser steht, klappe ich den Feumer auf. Ich möchte fast darauf wetten, dass der Fisch erneut den Mais anschwimmen wird – auch wenn er ihn beim ersten Mal einfach liegen gelassen hat.
Als ich mir 20 Minuten später eine Tasse heissen Tee genehmige, bemerke ich, wie sich das Schilf zu meiner Rechten bewegt und sich dann ein grösserer Fisch langsam nähert. Der Karpfen ist etwa 90 Zentimeter lang und zwischen 15 und 20 Pfund schwer. Er ist rotbraun gefärbt. Über seinen Rücken erstreckt sich eine Doppelreihe grosser Schuppen. Als ich zur Maisdose greife, passiert er die Maiskörner erneut. Verdammt! Doch dann wendet er plötzlich, strebt auf die Maiskörner zu und fängt an zu fressen. Während der Karpfen ein Maiskorn nach dem anderen einsaugt, wirbelt er jede Menge Schlamm auf. Mein Zapfen beginnt zu wackeln, aber er zieht nicht zur Seite oder taucht ab. Stattdessen schiesst der Fisch kurz darauf mit einem kräftigen Schwall davon. Als sich die Schlammwolke gelegt hat, sehe ich zwei Maiskörner am Boden – die beiden auf meinem Haken.
Beim Sichtfischen auf Karpfen in flachem Wasser kann man beweisen, dass man wirklich fischen kann. Aber keine Methode kann auch so frustrierend sein. Aus dem eingangs beschriebenen Erlebnis konnte ich zwei Dinge lernen: Als erstes wechsle ich die ersten 20 Zentimeter des Vorfachs hinter dem Haken von einer monofilen auf eine weiche geflochtene Schnur. Weil ich in einem Gewässer mit einem dichten Vegetationsgürtel fische, von dem man einen gehakten Fisch zurückhalten muss, habe ich anfangs mit einer durchgehenden 0,35er-Monofilschnur gefischt. Nun verbinde ich diese mit einem 20 Zentimeter langen, weichen Geflecht. Ausserdem binde ich am Haken ein Haar an. Nun kann ich den Mais am Haken mit gelbem Schaumstoff so ausbalancieren, dass der Köder fast schwerelos im Wasser hängt und der Fisch meine Hakenköder wie die Futterkörner einsaugen kann. Das weiche Vorfach soll verhindern, dass der Karpfen den Köder wieder ausspuckt, bevor ich anschlagen kann.
Am nächsten Morgen – kaum war ich erneut an der Stelle angekommen – macht mein Herz einen Sprung. Drei Karpfen ziehen dort ihre Kreise. Ich eile zum Auto und hole das Gerät. In meinem Hakenfach finde ich noch einen alten rosafarbenen Boilie und eine Plastiktüte mit Crumball-Pellets. Diese lösen sich schnell im Wasser auf und haben eine tolle Lockwirkung. Ich werfe fünf bis sechs Crumballs an die Stelle. Nur wenig später wühlen die Fische den Grund auf. Mein Köder bleibt allerdings unbeachtet. Wenn die Fische also den Geruch der Crumballs lieben, soll mein Köder beim nächsten Mal auch so riechen. In der Küche lege ich zirka 30 Maiskörner auf ein kleines Tablett, gebe dieses in die Mikrowelle und lasse die Köder dort auf mittlerer Stufe eine halbe Minute trocknen. Danach gebe ich den Mais zusammen mit den Crumballs, die ich im Maissud aus der Dose aufgelöst habe, in ein kleines Glas. Anschliessend kommt das Ganze in den Kühlschrank.
Am nächsten Morgen sehe ich wieder drei Karpfen im Flachwasser herumschwimmen. Schnell werfe ich ein paar Maiskörner und Crumballs ein und mache mein Gerät klar. Kaum ist mein Zapfen im Wasser, nähern sich bereits zwei Fische von links. Sie machen sich über das Futter her und ein Fisch nimmt sofort den Köder. Ich schlage an und das Flachwasser explodiert, während der Fisch wild davonstürmt. Innerhalb von Sekunden sind 20 Meter Schnur von der Rolle gezogen, dann schiesst der Karpfen nach rechts und verwickelt die Schnur in ein paar Seerosenstängeln. Zehn Meter weiter taucht er noch einmal auf. Dann spüre ich nur noch, wie die Seerosenstängel an meiner Schnur reiben.
Wenn ich nicht ins Wasser steige, werde ich diesen Fisch verlieren. Hastig befördere ich Schlüssel, Handy und Brieftasche aus meinen Hosentaschen, greife zum Feumer und begebe mich ins Wasser. Meine Stiefel füllen sich mit Wasser. Egal, ich will diesen Fisch nicht verlieren. Während ich Schnur einhole, nähere ich mich dem Fisch. Dann habe ich ihn auf Armlänge vor mir. Nun nur noch die Schnur von den Seerosen entfernen und dann liegt der Fisch im Feumer. «Jawohl!», schreie ich hinaus und höre ein leises Hüsteln hinter mir. Da steht ein Mann mit einem Hund an der Leine, dem ich erst einmal erklären muss, warum ich zu so früher Stunde bekleidet im Wasser stehe. Schliesslich überrede ich ihn, meine Kamera zu nehmen und ein paar Fangfotos zu schiessen. Fotos eines völlig durchnässten Verrückten, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, der einen Feumer mit einem anständigen Karpfen über die Wasseroberfläche hält.
Fünf Fischertage und drei grosse Karpfenfänge später, kann ich meine neue Fischereitechnik als erfolgreich einschätzen. Eine Entwicklung, die nicht möglich gewesen wäre, wenn ich die Fische und ihre Reaktionen auf mein Vorgehen nicht im flachen Wasser hätte beobachten können.
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