28 | 03 | 2023 | Video | Reisen | Diverses | 0 | 5463 |
28 | 03 | 2023 | Video | Reisen | Diverses |
0 5463 |
Wie Tinu vom Schiff zum Fisch kommt
Frühpensioniert, ein Segelschiff gekauft und in der Schweiz die Zelte abgebrochen – Tinu lebt einen Traum von vielen unter uns. Den Tagesplan richtet er nach Wind und Wetter, die Nächte verbringt er in lauschigen Ankerbuchten. Was ihm zum vollkommenen Glück noch gefehlt hat, ist das Wissen um das Fische Fangen. Das hat er nun auch erreicht!
Sardiniens Ostküste im Oktober. Das Meer tiefblau, die Wellen tragen kleine Schaumkronen. Sobald wir die geschützte Bucht verlassen, erfasst uns ein kräftiger Wind. Wir setzen die Segel und ich rolle meinen kleinen «Kona Head» – einen roten Gummifransenköder – von der Handleine und lasse ihn im Kielwasser verschwinden. Skipper Tinu steht am Steuer und hält lachend den Daumen hoch. Das Zeichen, dass unsere Mission gestartet ist: Wir wollen Fische fangen, und mein Job ist es, Tinu zu zeigen, wie das geht.
Tinu ist mein Cousin. Das ganze Leben durch hatten wir wenig Kontakt zueinander. Haben uns alle paar Jahre mal getroffen, meist an einer Beerdigung. Aber als er vor zwei Jahren ein Schiff kaufte, begann ein intensiver Austausch. Denn meine Frau und ich – beide begeistert vom Hochseesegeln – wollen erfahren, wie es ist, ganz auf dem Schiff zu leben. Frei von lästigen Alltagsverpflichtungen, am Morgen noch nicht wissen, in welcher Bucht am Abend der Anker fällt. Dort bleiben, wo es am schönsten ist, und weitersegeln, wenn Wind und Wetter passen. Und das nicht nur für ein, zwei Ferienwochen im Jahr, sondern für den Rest des Lebens. Genau das macht mein Cousin Tinu, zusammen mit Judith, seiner Partnerin. «Kommt doch für ein, zwei Wochen zu uns an Bord», hat Tinu im Frühling in einem unserer Whatsapp-Calls gesagt, «dann seht ihr, wie wir das machen, und du zeigst mir, wie das mit dem Fischen funktioniert.» Wenn das kein Deal ist!
Überraschender Biss
Ich binde den millimeterdicken Silch meiner Handleine mit einem Gummiseil an die Reling. Diesen Trick habe ich bei meinen Fischerkumpels in Neapel abgeguckt. Das Gummiseil sorgt dafür, dass ein kräftiger Biss nicht voll in die Monoschnur schlägt und diese zum Reissen bringen könnte. Gelegentlich animiere ich den Köder von Hand. Und spüre den Biss! Der kommt heute völlig überraschend. Das gibts doch nicht: Es ist unser erster Segeltag und wir sind noch keine zwei Stunden auf See. «Fish on!», schreie ich. Die andern drei schauen mich ungläubig an. Lektion eins für Tinu: Beim Einholen des Fischs mit der Handleine darf der Zug nie nachlassen. Und der schwierigste Part: den Fisch an Bord heben. Das geht mit einem beherzten wie gefühlvollen Schwung. Was haben mich meine süditalienischen Fischerkumpels schon zusammengestaucht, weil ich ganz zum Schluss schöne Fische verkackt habe! Aber diesmal klappt es. Als der wunderschöne Bonito auf Deck liegt, weicht die Anspannung von mir und ich grinse schelmisch in die Runde. Der Köder tanzt nach dem Abhaken und Töten bereits wieder im Kielwasser. «Ganz wichtig, Tinu. Denn: Wo ein Bonito beisst, sind meistens viele am Jagen.» «Wow», staunt mein Cousin, «du bist ja ein richtiger Profi!» «Klar, aber du wirst es nach dieser Woche auch sein.»
Einige Stunden und einen weiteren Bonito später liegen wir vor Anker. Das Schiff schaukelt sanft in der Abendsonne. Rosa leuchtende Granitfelsen umrahmen die Bucht. Die Fische sind filetiert und in kleine Würfel geschnitten. Unser Geheimrezept: Cracker Biscuits mit etwas Frischkäse bestreichen; darauf kommen die frischen Thunfischwürfel. Nach Belieben ein Spritzer Zitronensaft und etwas Pfeffer. Dazu einen kühlen sardischen Weisswein.
Eglifischen auf Sardisch
Die Fischerrunde vom nächsten Morgen habe ich schon am Abend vorher vorbereitet: Beiboot gewassert, Spinnrute und leichte Köder bereitgelegt. Im Morgengrauen ist es die Egli-Technik vom Zürichsee, die im unbekannten Küstenrevier zum Zug kommt. Ich knattere den Felsen entlang und lasse mich von der leichten Morgenbrise driften, um mit kleinen Gummi-Jigs das Ufer abzuwerfen. Momente, die sich in der Erinnerung einbrennen: Sonnenaufgang, silbriges Wasser und Möwengeschrei. Und fast jeder Wurf ein Biss. Als ich eine Stunde später wieder an Bord klettere, sitzen die anderen drei beim Kaffee. Wie beiläufig zeige ich ihnen meinen Eimer voller Schriftbarsche. Es ist leicht, Nichtfischer zum Entzücken zu bringen. Eglifischer kennen es: Nach dem Fangvergnügen die Filetierarbeit. Tinu freut sich schon auf den Znacht, und schmunzelnd stelle ich fest: Mein Cousin ist eher der Fisch-Geniesser als der Fisch-Jäger.
Lebensplan nach der Krise
Weil der Wind heute erst gegen Mittag aufkommen wird, bleiben wir sitzen, trinken Kaffee und plaudern. Zum Segeln hat Tinu erst spät gefunden, obwohl er am See aufgewachsen ist. «Ich war fasziniert davon, allein mit der Kraft des Windes vorwärtszukommen.» Auf dem Thunersee segelte er anfänglich vor allem kleine Boote. Dann hat er sich ein Kabinenboot gekauft und sehr viel Zeit auf dem Schiff verbracht. «Meine damalige Partnerin ist an Krebs erkrankt», erzählt Tinu von dieser für ihn sehr belastenden Lebensphase. «Ihre Pflege brauchte viel Energie. Der See und das Segeln waren für mich eine wichtige Kraftquelle.» Als seine Partnerin dann starb, wurde Tinu klar: «Das Leben ist kurz, du musst das machen, was dir Freude macht!». Für ihn war es ein Leben auf dem Wasser. «Das Schiff war mein Zuhause geworden. Hier fühlte ich mich irgendwie ganz.» Immer wieder zog es Tinu in die Ferne. In Australien und in der Karibik hat er als Schreiner im Bootsbau gearbeitet. Und schliesslich dann auch den Hochseeschein gemacht. «Das Meer hat mich in seinen Bann gezogen», schwärmt Tinu, «und plötzlich war mein Lebensplan da: Irgendwann werde ich mein eigenes Schiff haben und auf dem Meer leben!»
Sportliches Speed Jigging
Gegen Mittag lichten wir den Anker und tuckern los. Bevor der Wind aufkommt, will ich Tinu eine weitere Angeltechnik zeigen: Speed Jigging vertikal. Das ist auch für mich Neuland, meine ersten Versuche vor einem Jahr blieben bisslos. In der Zwischenzeit habe ich mich von einem erfahrenen Fischerkumpel nochmals genau instruieren lassen. Wir suchen eine Kante auf, wo der felsige Grund von zwanzig auf vierzig Meter abfällt. Unter leichter Drift lassen wir die hundert Gramm schweren Jigs auf den Grund. Dann wirds richtig heftig: Mit schnellen Rucks und Kurbeln zischen wir die schlanken Jigs zum Schiff hoch. «Das ist ja richtig sportlich!», ruft Tinu von der anderen Bordkante hinüber. Drift um Drift versuchen wir unser Glück. Schliesslich sehen wir unter uns im klaren Wasser einen Schwarm mutmasslicher Amberjacks vorbeiziehen. Vibrierend vor Spannung lasse ich meinen Jig unter die Fische fallen und beginne zum hundertsten Mal: hochziehen, einmal kurbeln, hochziehen, kurbeln. Und zack – ein Biss. Ich schreie vor Glück. Der kräftige Fisch zieht Schnur von der Rolle. Doch kaum hat der Drill begonnen, ist er wieder weg. Tinu, Lektion fünf oder so: Auch das gehört zum Fischen. «Mir ist das zu anstrengend, ich bleibe vorerst mal beim Schleppfischen mit der Handleine», lacht mein Cousin. Die Erfahrung dieser Woche gibt ihm recht: Obwohl ich das Speed Jigging immer wieder probiert habe – der Biss von heute sollte mein einziger bleiben.
Lebenstraum geht in Erfüllung
Tatsächlich bekommen wir beim Schleppen fast jeden Tag Fisch an die Leine. Sogar bei sechs Windstärken und hohen Wellen auf der Überfahrt von Sardinien nach Korsika beissen Bonitos. Tinu hat das Reinziehen mittlerweile gut im Griff. «Das ist der Hammer», ruft er begeistert, «jetzt sind wir schon fast Selbstversorger!» Ist doch ein wenig vom Angelvirus übergesprungen?
An diesem Abend schneiden wir die kleinen Thunfische in drei Zentimeter dicke Steaks und braten diese auf beiden Seiten kurz an, zusammen mit Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Mit einer Handvoll Risotto und einem Glas Rotwein serviert: ein absolutes Gedicht. Klar, dass es an so einem Abend nicht bei dem einen Glas Wein bleibt. Wie er seine Frühpensionierung aufgegleist habe, will ich von Tinu wissen. Als gelernter Schreiner hat er viele Jahre im Sozialbereich gearbeitet und eine Schreinerwerkstatt für die Wiedereingliederung von Menschen mit Suchtproblemen und psychischen Erkrankungen geleitet. Und: «In Australien habe ich in Eisenerzminen gearbeitet. Das geht zwar total an die Substanz, aber du verdienst richtig Kohle», lacht Tinu. Vor drei Jahren hat er den Taschenrechner genommen und kalkuliert: «Mit 63 in Pension gehen, das sollte klappen.». Plötzlich ging alles sehr schnell: Er entdeckt sein Traumschiff – und kauft es. «Da bin ig zwar ersch 61i gsi – so what», lacht Tinu in seinem gemütlichen Berndeutsch. «Wenn dein Lebenstraum an die Tür klopft, musst du ihn reinlassen. Sonst ist es dann plötzlich zu spät dafür!»
0 Kommentare
Keine Kommentare (Kommentare erscheinen erst nach unserer Freigabe)