22 | 01 | 2024 | Schweiz | 0 | 4228 |
22 | 01 | 2024 | Schweiz |
0 4228 |
Fisch des Jahres 2024: Marmorata
Bedrohtes Tessiner Juwel
Einst dominierte die Marmorata-Forelle die Gewässer der Südschweiz, jetzt kämpft sie ums Überleben. Der Schweizerische Fischerei-Verband SFV hat sie zum Fisch des Jahres 2024 gewählt – als Mahnmal.
Mit dem Fisch des Jahres setzt der SFV bewusst unterschiedliche Akzente. Das Spektrum reicht vom wichtigsten Brotfisch Felche (2022) über den beliebten Hecht (2023) bis zu bedrohten Arten wie den Roi du Doubs (2013), den Aal (2018) – oder 2024 die Marmorata-Forelle.
Heimliche Herrscherin
Marmorata – damit können in der Deutschschweiz und in der Romandie nicht viele Fischerinnen und Fischer etwas anfangen. Verständlich, denn es handelt sich um eine Fischart, deren Einzugsgebiet jenseits des Gotthards ist. Und wie! Schon seit Jahrtausenden gab es die Marmorata-Forelle in den Gewässern des Tessins und Südbündens. Hier hat sie – sozusagen «seit ewig» – den Ton angegeben. Ja, als eigentliche Herrscherin steht sie an der Spitze der Nahrungskette.
Roberto Zanetti
Ihre Dominanz verdankt die Marmorata ihren Genen und dem entsprechenden Charakter. Das beginnt beim marmorierten «Kleid», das ihr die perfekte Tarnung ermöglicht. Lauert sie regungslos auf dem Grund, ist sie kaum zu entdecken. Nähern sich Beutefische ihrem Versteck, schnappt sie blitzschnell zu. Die Jungfische begnügen sich mit Insekten und Flusskrebsen. Sobald ihr markantes Maul gross genug ist, kennt die Marmorata kein Halten und frisst alles, was sie kriegen kann. Selbst kleinere Artgenossen sind nicht sicher vor ihr.
Dramatisch in Bedrängnis
Aber: Trotz der jahrtausendealten Herrschaft kämpft die Marmorata jetzt um das nackte Überleben. Roberto Zanetti, Zentralpräsident des Schweizerischen Fischerei-Verbands drückt es so aus: «Es ist alarmierend, wenn heute kaum noch jemand eine Marmorata-Forelle entdeckt.» Dem muss leider Urs Lüchinger, Präsident des Tessiner Fischerei-Verbands, beipflichten. Im Interview (Seite 14) bedauert er: «Leider rechnet beim Angeln niemand von uns Tessiner Fischern noch mit einer Marmorata.»
David Bittner
Tatsächlich kommt die Marmorata nur noch in Kleinstbeständen im Lago Maggiore und einigen abgelegenen Gewässern des Tessins, im Bergell und im Puschlav vor. Vor allem aber: Viele Marmoratas sind genetisch nicht mehr rein, sondern erblich mit der Rheinforelle vermischt.
Was der Marmorata zu schaffen macht
Zu den Ursachen der Misere nennt David Bittner, Geschäftsführer des Schweizerischen Fischerei-Verbands, zwei Gründe: «Das Unheil für die Marmorata liegt einerseits an der unwissentlich falschen Besatzpraxis früherer Jahrzehnte und anderseits an der unterbrochenen Fischwanderung und weiteren grundsätzlichen Problemen des Gewässerschutzes.» Mit der Besatzpraxis meint Bittner, dass Rheinforellen in die Marmorata-Gewässer besetzt wurden. Die Bedeutung der Fischwanderung steht im Zusammenhang mit dem Charakter der Marmorata. Sie wandert zum Laichen viele Kilometer flussaufwärts. Bittner: «Ist die Fischwanderung durch Hindernisse unterbrochen, wird die Fortpflanzung stark eingeschränkt.»
Forderungen gelten für alle Fische!
Die vom Aussterben bedrohte Marmorata-Forelle nutzt der SFV als Mahnmal im Kampf für die Fischvielfalt in der Schweiz. Was der Marmolata nützt, hilft auch der Fischfauna, die stark unter Druck steht. In diesem Sinn formuliert der SFV sechs Forderungen an Bevölkerung, (Wasser-)Wirtschaft, Behörden und Politik:
- Konsequenter Schutz der letzten ökologisch intakten Gewässer
- Revitalisierungen durch Aufwertung der Gewässerlebensräume
- Gewährleistung der Fischgängigkeit mit genügend Restwasser, Fischauf- und -abstiegsanlagen sowie Verbesserungen beim Schwall-Sunk und Geschiebehaushalt bei allen Wasserkraftanlagen
- Reduktion der Gewässerbelastung durch Landwirtschaft, Industrie und Siedlungen
- Sensibilisierung bezüglich Biodiversitäts- und Klimakrise sowie möglicher Massnahmen
- Verhindern der Ausbreitung invasiver Arten
Hinweise
Texte, Bilder, Videos zur Marmorata-Forelle:
sfv-fsp.ch/fisch-des-jahres/2024-die-marmorata
Wein zum Fisch des Jahres 2024:
petri-heil.ch/shop
Urs Lüchinger
Wie stehen die Tessiner Fischerinnen und Fischer zur Marmorata-Forelle? Wir haben mit Urs Lüchinger gesprochen. Er ist Präsident des Tessiner Fischereiverbands, der Federazione Ticinese per l'Acquicoltura e la Pesca FTAP.
Welchen Bezug haben Sie zur Marmorata-Forelle?
Urs Lüchinger: Als ich Präsident des Fischereivereins Ceresiana war, habe ich mich intensiv mit der Marmorata beschäftigt. Der Verein hat in Maglio di Colla eine Zuchtstätte für die Marmorata aufgebaut und betreibt sie in Absprache mit dem Kanton bis heute.
Was halten die Tessiner Fischerinnen und Fischer von der Marmorata?
Tja, die Marmorata-Forelle gehört leider nicht mehr zu den Zielen der Fischerinnen und Fischer, auch weil sie geschützt ist. Sie ist sehr selten geworden oder hat sich mit der Bachforelle genetisch vermischt. Daher kommt die Marmorata in den Köpfen der Fischer leider fast nicht mehr vor. Niemand rechnet beim Angeln mit einer Marmorata.
Es steht also wirklich schlecht um die Marmorata?
Leider ja! Sie kommt nur noch in hybrider Form in den Flüssen Brenno und Tessin sowie im Verbanosee vor. Im Fluss Melezza oberhalb des Palagnedra-Staudamms scheint noch ein genetisch reiner Stamm zu existieren. Auf allen übrigen Tessiner Gewässern kann die Marmorata als nahezu vollständig ausgestorben gelten. Das ist traurig.
Ist die Wahl als Fisch des Jahres 2024 sinnvoll?
Unbedingt. Das ist eine wichtige Anerkennung, jedenfalls bei allen, die sie noch kennen. Das Thema der Bedrohung und Erholung der Marmorata-Forelle wird von den Medien aufgenommen und gelangt so wieder in das Bewusstsein der Fischer, der Politik und der Bevölkerung.
Die Tessiner Fischerinnen und Fischer wollen aber nicht tatenlos zuschauen?
Genau, wie erwähnt werden auf der Fischfarm Maglio di Colla Marmorata-Forellen von genetisch reinen Zuchttieren herangezogen. Von hier aus werden derzeit jedes Jahr die Marmorata-Jungtiere in die Sottoceneri-Bäche eingesetzt und warten darauf, dass sie das Jagd- und Fischereiamt auch in den Sopraceneri-Flüssen freigibt.
Wie gross sind die Erfolgschancen?
Das Problem liegt an der Wurzel, nämlich dass die Marmorata mit der Fario hybridisiert. Man hat daher den Eindruck, dass etwas getan wird, das teilweise wirkungslos ist und auf lange Sicht keine grossartigen Ergebnisse bringen wird. Was möglich ist, tun wir und sind offen für neue Ideen.
Neue Ideen?
Im Kanton Tessin gibt es eine weitere Forelle, die Cinerina-Forelle, die als heimisch gilt. Für diese Forellen ist eine Zucht geplant, in der die Jungfische und Eier in einen Abschnitt des Capriasca-Flusses eingeführt werden, der flussaufwärts und flussabwärts durch natürliche Barrieren begrenzt ist und aus dem alle anderen Forellen entfernt wurden. Dieser Abschnitt wurde zum Angeln verboten. Ein ähnliches Experiment könnte auch für Marmorata-Forellen durchgeführt werden und wir würden es sehr begrüssen, wenn uns der Schweizerische Fischerei-Verband hier unterstützen könnte.
Grosse Fischvielfalt im Tessin
Der Tessin als relativ isolierte Gewässerregion der Schweiz verfügt über eine weitgehend unbekannte, spezielle und vor allem spannende Fischvielfalt. So kommt hier auch noch die Adriatische Forelle vor – ein weiteres Unikum neben der Marmorata und den anderen Forellenarten der Schweiz: Atlantische Forelle, Zebraforelle, Donauforelle. Die Tessiner Fischvielfalt umfasst noch weitere Raritäten: So leben hier auch der Südliche Hecht und die Adriatische Äsche. Insgesamt kennt man über 20 Fischarten, die nur auf der Alpensüdseite der Schweiz vorkommen. Einige davon als klassische Tessiner Fischraritäten, etwa Heringfisch «Agone», Schleimfisch «Cagnetta» oder die Cypriniden «Pigo», «Triotto» und «Alborella».
0 Kommentare
Keine Kommentare (Kommentare erscheinen erst nach unserer Freigabe)