20 | 05 | 2021 | Video | Reisen | 0 | 10333 |
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Der marmorierte Geist des Balkans
Der Balkan ist die Heimat der grössten lebenden Forellenart Europas; der Marmorata. Die Marmorierte Forelle hat ihre letzte Hochburg in den schnapsklaren Bergflüssen und Kreidebächen dieser Region. Rasmus Ovesen berichtet aus Slowenien von der Begegnung mit der besonderen Art.
Die Marmorierte Forelle (Salmo marmoratus) ist eine der gefährdetsten und am meisten übersehenen Forellenarten in Europa. Sie ist eng mit der Bachforelle (Salmo trutta) verwandt, aber unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von ihr. In erster Linie durch das Fehlen schwarzer Flecken und durch das auffällige marmorierte Muster entlang der Flanken und des Rückens. Ausserdem haben Marmorforellen eine phänomenale und in der Welt der Forellen beispiellose Fähigkeit, sich zu tarnen. Tatsächlich können sie ihre Färbung je nach Lebensraum, ihrer aktuellen Umgebung und ihrem Aktivitätsniveau ändern – und das erstaunlich schnell. Marmorforellen am Gewässergrund beispielsweise nehmen eine sehr dunkle Färbung entlang des Rückens an, mit breiten schwarzen Streifen an den Flanken. Im Freiwasser schwimmende Exemplare hingegen sind meistens leuchtend gelb mit einem schillernden marmorierten Muster. Sogar während des Drills ist zu beobachten, wie diese Meister der Tarnung ihre Farbgebung verändern. Die Marmorforelle ist so eng mit der Bachforelle verwandt, dass die beiden Arten hybridisieren und fruchtbare Nachkommen erzeugen können. Bachforellen sind jedoch nicht endemisch im Einzugsgebiet der Adria. Wie die Regenbogenforelle wurden sie in vielen Gewässern auf dem Balkan eingeführt. Dementsprechend sind hybridisierte Formen sehr häufig und oft in spektakulären Mustern zu bewundern. Sieht man vom Huchen ab, der als Urform der Forellen gilt, ist die Marmorforelle die grösste Forellenart Europas. Es gibt unbestätigte Berichte über Exemplare bis zu 30 Kilo aus Bosnien und Herzegowina. Und aus Slowenien gibt es mehrere gut dokumentierte Berichte von Marmorierten bis zu 25 Kilo. Darunter ist auch ein Fisch, der 2009 von einem italienischen Fliegenfischer im Soca-Fluss gefangen wurde. Mit 120 cm brachte er 22,5 Kilo auf die Waage.
Hohes Alter und Änderung des Verhaltens
Da sie vorwiegend in kalten Gebirgsbächen leben, wachsen Marmorforellen eher langsam. Das kompensieren sie durch ein für Fische hohes Alter. Mindestens bis zu 10 Jahren, möglicherweise aber auch an die 20 Jahre bewohnen sie ihr Gewässer. Wie Bachforellen ernähren sie sich überwiegend von kleineren Wasserinsekten wie Flohkrebsen, Köcherfliegen, Eintagsfliegen oder Steinfliegennymphen. Grössere Individuen ernähren sich zunehmend von Beutefischen wie Äschen, Alet, Nasen, kleineren Forellen und Neunaugen. Wenn diese Umstellung des Menüs eintritt, nimmt die Körpermasse noch einmal deutlich zu und die Fische ändern ihr Verhalten. Grosse Marmorforellen ziehen sich zurück in zerklüftete Strukturen am Grund der tiefsten Pools und verstecken sich unter Felsblöcken, Klippenfragmenten und Wasserfällen. Hier verharren sie typischerweise tagsüber, um im Schutz der Dunkelheit nachts zu jagen.
Ein unmöglicher Wurf
Ich verharre auf einer kleinen und von Gebüschen drapierten Anhöhe. Der Fisch befindet sich in tiefem Wasser am gegenüberliegenden Ufer, etwa 25 Meter von meinem schmalen Beobachtungsposten entfernt. Wie ein transparenter Geist schwebt er über dem Flussbett, umgeben von kaltem und durchscheinendem Wasser – mit der Sonne und einem schillernden grünen Baumkranz über ihm. Eine kleine Stromschnelle etwas weiter flussabwärts sorgt für ein hypnotisierendes und leise murmelndes Hintergrundrauschen. Ansonsten liegt Stille über dem umliegenden Gebirgstal, das wegen seines nährstoffreichen Mutterbodens und des warmen Adria-Klimas eines der bedeutendsten Weinanbaugebiete Sloweniens ist. Ich bin geneigt, diesen Fisch einfach in Ruhe zu lassen und mir die Demütigung eines misslungenen Wurfs zu ersparen. Aber meine guten slowenischen Freunde Jure Ramovz und Matej Furlan, die neben mir auf dem Boden hocken, senden mir unmissverständliche feste und befehlende Blicke. Sie schätzen die grosse Forelle auf etwas mehr als 60 Zentimeter. Da ich auf diesem Trip noch keinen Fisch dieses Kalibers gefangen habe, sind sie wohl der Meinung, dass ich es mir und ihnen schuldig sei, es zumindest zu versuchen.
Die Zeit steht still
Wie in Trance binde ich eine beschwerte #20 Fasanenschwanznymphe an das 0,117 mm-Tippet meines sechs Meter langen Fluorocarbon-Vorfachs, atme tief ein und spüre plötzlich, wie das Blut in meinen Adern zu rieseln und zu zischen beginnt. Es ist, als wäre etwas in mir wiedererweckt worden. Während ich die Schnur von der Rolle ziehe und sorgfältig die Strömung, den notwendigen Wurfwinkel und an der Ausführung des bevorstehenden Wurfs durch die Vegetation studiere, schwinden meine Selbstzweifel langsam dahin. Wahrscheinlich werde ich nicht mehr als einen einzigen Wurf haben und er wird möglicherweise damit enden, dass ich mich in einem Baum verheddere oder den Fisch verschrecke, weil ich die Fliegenschnur und das Vorfach zu abrupt lande. Wenn ich es denn überhaupt schaffe, auch nur in die Nähe des Fischs zu kommen. Und dennoch hat es etwas Unvermeidliches an sich, während sich der Unterhand-Rollwurf über dem kristallklaren Wasser entfaltet; ein fliessender langer Wurf, der das zarte Vorfach etwa drei Meter stromaufwärts vom Fisch streckt. Danach ist es, als stünde die Zeit still.
«Verdammt nochmal»
Unendlich langsam wird die Nymphe von der Strömung flussabwärts getragen, schwebt durch die transparenten Wassermassen des Flusses, auf Kurs zum Fisch. Mein Herz donnert in seinem Käfig aus Knochen und Mark vor sich hin, während meine Augen verzweifelt versuchen, die spiegelnde Oberfläche zu durchbrechen, um genau zu erkennen, ob der Fisch irgendwelche plötzlichen Bewegungen macht. Leider werde ich ungeduldig. In der Gewissheit, dass die Fliege den Fisch bereits passiert hat, beginne ich, die Schnur einzuholen und hebe die Rute für einen weiteren Wurf. Genau in diesem Moment bewegt sich der Fisch zur Seite und reisst den Rachen auf. Die Nymphe beschleunigt just in diesem Moment und der Fisch verfehlt sie nur knapp. Ich ziehe sie ihm buchstäblich aus dem Maul! Frustriert fluche ich leise durch meine zusammengepressten Lippen. Ich blicke zu Jure und sehe seinen Augen an, dass auch ihm diverse slowenische Flüche und Schimpfwörter auf der Zunge liegen. Er hat jedoch mehr Selbstbeherrschung als ich. Das einzige, was ich von ihm höre, ist ein Knurren – und stumm deutet er mit Jagdfieber im Gesicht auf den Fluss. Der Fisch schwimmt nach wie vor an seinem Standplatz, scheinbar unbeeindruckt vom Vorfall.
Zweite Chance
Ohne nachzudenken oder zu zögern, schicke ich einen weiteren Wurf über den Fluss und übertreffe mich noch einmal selbst. Der Wurf landet auch dieses Mal tadellos etwa drei Meter über dem Fisch. Auch diesmal gleitet der Salmonide mit plötzlich weit geöffnetem Maul zur Seite und ein Stück nach oben. Als er sein Maul wieder schliesst und sich wieder seiner Position zuwendet, hebe ich die Rute an und werde sofort von der Schwerkraft des Fischs getroffen. Unsere Freudenrufe hallen nun über den Fluss und durch den tunnelartigen Abstieg unter uns, wo die Echos zwischen den undurchdringlichen grünen Wänden der baumbewachsenen Ufer hin und her geworfen werden. Der Fisch ist sichtlich irritiert, aber hat die Lage noch nicht ganz erfasst. Erst als wir ins Wasser stürzen, stürmt er unwiderstehlich flussaufwärts und beginnt, wild um sich zu schlagen. Die pulsierenden Züge an der Fliegenrute sind schwer und heftig. Mehrmals fühlt es sich an, als ob der Kontakt abbricht, aber es gelingt mir, die Verbindung immer wieder herzustellen.
Dramatisches Finale
Jure steht mit dem Feumer bereit, als der Fisch seine Richtung ändert und sich flussabwärts bewegt. Unermüdlich halte ich mit dem Fisch Schritt und übe so viel Druck auf das straff gespannte Vorfach aus, wie ich mich gerade noch traue. Als der Fisch näher kommt, durchfährt mich leichte Panik und ich verliere jegliche Ruhe. Der Fisch ist gross! Viel grösser, als wir ihn anfangs geschätzt haben. Er kommt uns zum Greifen nahe und ich schreie Jure an, sich doch bitte einfach mit dem Netz auf ihn zu stürzen. In diesem Moment sieht uns der Fisch und flüchtet quer rüber auf die andere Seite. Dort umrundet er auch noch ein im Wasser stehendes Gehölz. Auf der anderen Seite der aus dem Wasser ragenden Äste kommt der Fisch nun an die Oberfläche und wirft glitzernde Wasserkaskaden um sich. «Das wars – es ist vorbei», fährt es mir durch den Kopf. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jure im Halbsprint durch den Fluss watet. Wird er es schaffen, den Fisch im Holz und tiefen Wasser da drüben noch zu landen? Bis zum Hals steht er im Wasser und klettert wie durch ein Wunder mit einem vollen Netz zurück ans Ufer. Wir brechen in Jubel aus.
Blick in längst vergangene Zeiten
Im Inneren des Netzes liegt eine astreine Marmorataforelle. Nachdem wir dem klatschnassen Jure eine dicke Umarmung gegeben haben, schauen wir sie uns genauer an. Sie ist an die 80 cm lang, und die kleine Nymphe ist im kräftigen Kiefer kaum zu sehen. Ich bin voller Ehrfurcht gegenüber diesem ausgesprochen schönen Fisch, der ein langes und verborgenes Leben in diesem Juwel von Gewässer geführt hat. Seine kräftigen olivgrünen Flanken, die goldmarmorierten Kiemendeckel und die seelenvollen Augen berühren mich. Er ist wie ein Schatz aus einer längst vergangenen Welt, ein Blick zurück in die Vergangenheit, als die Flüsse Europas noch wild und naturbelassen waren, bewohnt von lauter solchen Geschöpfen. Wir machen schnell eine Reihe Fotos und lassen das seltene Tier wieder schwimmen. Als der marmorierte Geist im schimmernden Dickicht aus Spiegelungen, Schatten und überhängender Vegetation verschwindet, habe ich keine Zweifel: Das ist einer der eindrücklichsten Fische, den ich je gefangen habe. Und für eine Weile kann nicht einmal die Tatsache, dass diese faszinierend schöne Art zusammen mit vielen anderen endemischen Fischarten des Balkans durch engstirniges Profitstreben, Umweltverschmutzungen und unzureichende Schutzmassnahmen akut bedroht ist, meine Stimmung trüben.
Dokumentation zur Rettung der Wildflüsse des Balkans:
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