[Sachbuch –] Flüsse der Alpen
10 | 04 | 2020 SchweizText: Erich Bolli 03087
10 | 04 | 2020 Schweiz
Text: Erich Bolli 0 3087

Sachbuch – Flüsse der Alpen

Das neu erschienene Sachbuch Flüsse der Alpen hat es in sich. Auf über 500 Seiten bietet es eine reich bebilderte, umfassende Dokumentation der Alpenflüsse von Frankreich bis Slowenien.


Flüsse der Alpen
Vielfalt in Natur und Kultur
Hrg. von Susanna Muhar,
Andreas Muhar, Gregory Egger,
Dominik Siegrist,
2019 Haupt Verlag Bern,
ISBN: 978-3-258-08114-4
 

Die Flüsse der Alpen sind eine komplexe, ja komplizierte Angelegenheit und wenn jeder Aspekt davon in einem einzigen Buch behandelt werden soll, gibt dies einen Wälzer von fast unlesbarer Fülle. 150 Autoren haben in 34 Kapiteln so ziemlich jedes Thema über die Flüsse zusammengetragen. So wird über die Entstehung und Funktionen von Flüssen, ihren ökologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellenwert in Geschichte und Gegenwart, das Ausmass und die Folgewirkungen menschlicher Nutzungen sowie den Abstimmungsbedarf von Schutz- und Nutzungsinteressen geschrieben. Eine vollständige Artenliste der autochthonen Fische der Alpenflüsse darf natürlich nicht fehlen und wie zur Abrundung sind noch Portraits von 54 Alpenflüssen mit ihren Besonderheiten angefügt.

 
Gut lesbar

Bei diesem Umfang ist die Gefahr gross, dass ein Monsterbuch entsteht, welches zwar enzyklopädische Vollständigkeit hat, aber für den Leser eine Zumutung darstellt. Beim «Flüsse der Alpen» ist das erfreulicherweise nicht der Fall. Das heisst aber nicht, dass man das Werk von vorn bis hinten in einem Zug durchlesen muss, zu differenziert und spezialisiert sind einige Kapitel, eventuell wäre weniger gelegentlich mehr gewesen. Der Durchschnittsleser wird nicht unbedingt 25 Seiten über Morphologie, d. h. über die vielfältigen Formen der Alpenflüsse, lesen wollen, um zu erfahren, was für «komplexe Systeme mit verwirrender Vielfalt» die alpinen Fliessgewässer sind. 

Wer sich aber die Mühe macht, erfährt gerade in diesem Kapitel Erstaunliches: Selbst Flüsse wie Rhein, Rhone oder Donau haben kein ewiges Leben. Einst floss die Rhone durch einen kilometertiefen Canyon ins Becken des damals fast ausgetrockneten Mittelmeers. Mittlerweile hat sich dieser Canyon schon längst wieder mit Schwemm-Material aufgefüllt. Und auch der Rhein strömte einst ostwärts und dürfte in ferner Zukunft vielleicht südwärts sich mit der Rhone vereinigen. So kann einen dieses Buch sprichwörtlich vom Hundertsten ins Tausendste führen.

Hoch anzurechnen ist es den Autorenteams, dass sie es nicht bei reinen Deskriptionen bewenden lassen, sondern in ihren Schlussfolgerungen auch Forderungen, Postulate, Appelle zur Verbesserung bestehender Missstände einbringen. Die Verfasserinnen und Verfasser wollen mit ihrem Buch einen Beitrag leisten, das Bewusstsein über die Einmaligkeit und den Wert der Alpenflüsse sowie deren Gefährdung zu stärken und Menschen dazu zu motivieren, für einen nachhaltigen Umgang und den Erhalt dieser einzigartigen Fliess­gewässer einzutreten – aus meiner Sicht angesichts der Fülle und wissenschaftlichen Exaktheit von Informationen über die Alpenflüsse eine realistische, nicht zu hoch angesetzte Zielsetzung.

 
Fünf grosse Themenbereiche

In der immerhin 31 Seiten langen Einführung wird zuerst eine Begriffsbestimmung der «Alpenflüsse» sowie deren räumliche Abgrenzung vorgenommen. Auch ein Ausflug in die Sprachwissenschaft darf nicht fehlen. Wir erfahren da beispielsweise, dass der Name «Maggia» und «Valmaggia» auf das lat. Adjektiv «maior (grösser) zurückgeht und damit wohl die Grösse des Maggiatals im Vergleich zu seinen Nachbartälern gemeint war. 

Im ersten Hauptkapitel «Naturräumliche Grundlagen» erfährt man, wie unsere Flusslandschaften entstanden sind. Da wird weit in der Geschichte unseres Planeten ausgeholt; es beginnt mit der Auffaltung der Alpen vor etwa 100 Millionen Jahren. Die Dynamik von Erosion und Sedimentation haben schliesslich den Alpenraum geformt und ihn zum Wasserturm Europas gemacht. Die vielfältige Gestalt der Alpenflüsse wird dann von einem siebenköpfigen Team von Morphologen und Morphologinnen mit wissenschaftlicher Akribie und abgestützt auf 27 Grundlagenwerke der Fachliteratur erklärt und dargelegt, was für manchen Leser mehr als genug sein dürfte. 

 
Mensch und Fluss

Im zweiten Hauptkapitel «Alpine Flusslandschaften als Lebensräume» treffen wir als Fischer vertrautere Materie an. Das sich konstant verändernde Ökosystem Alpenfluss mit all seiner Pflanzen- und Tierwelt kommt umfassend zur Darstellung. Unglaublich, was für ein Reichtum an Arten der Ufervegetation, Fische (83 Arten), Insekten, Amphibien, Reptilien und Vögel usf. sich an und in unsern Alpenflüssen tummeln! Gelegentlich stösst man auch auf wahre Trouvaillen: Wer kennt z.?B. schon den in der Drau und einigen Nebenflüssen vorkommenden Fisch mit dem speziellen Namen «Frauen­nerfling» (Rutilus virgo)?

Im Kapitel «Siedeln und Wirtschaften an den Alpenflüssen» erfahren wir, inwiefern sich die Flussläufe zur Verkehrserschliessung der Alpentäler eigneten. Im Zuge der zunehmenden Besiedelung wird die expandierende Landnutzung und damit einhergehend der Schutz vor Hochwasser sowie die energiewirtschaftliche Bedeutung der Alpenflüsse thematisiert.

Danach veranschaulicht das Kapitel «Mensch und Natur» die ursprüngliche Anziehungskraft der Alpenflüsse auf den Menschen. Sowohl in der Mythologie, der Malerei und der Psychologie finden die Flüsse durch die menschliche Wahrnehmung neue Gestalt und heutzutage hat sich schliesslich eine vielfältige Freizeit- und Tourismusindustrie, die auch unser Hobby mit einschliesst, entwickelt. 

 
Wichtiges Schutzplädoyer

Im letzten Hauptkapitel «Schutz und Revitalisierung», geht es explizit um Schutzmassnahmen und richtige Revitalisierungen der gefährdeten Flüsse. Es schliesst mit einem Plädoyer für zukünftige Flussrevitalisierungen, dem wir uns gerne anschliessen: «Wir enden mit einem Appell, der sich an uns alle richtet – an Verantwortliche in Verwaltung und Politik, Repräsentanten von NGOs, Forschende, Sachverständige und die Zivilgesellschaft: Für eine verstärkte Zusammenarbeit in Hinblick auf wirksame und sogar visionäre Lösungen für die Revitalisierung und den zukünftigen Schutz unserer wertvollen alpinen Gewässerökosysteme.» Wer also einmal alles, wirklich alles über unsere Alpenflüsse wissen möchte, sollte sich das Buch «Flüsse der Alpen» anschaffen.             

 

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